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Fußballerin in Kabul: "Der Albtraum ist wahr geworden"

James Thorogood
21. August 2021

Eine afghanische Fußballnationalspielerin versteckt sich seit Tagen im Keller. Im Gespräch mit der DW bittet sie um Hilfe - für Afghanistan. Hinter den Kulissen wird versucht, sie sicher außer Landes zu bringen.

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Afghanistan | Testspiel Frauen Fußball Nationalmannschaft 2011
Spielerinnen der afghanischen Frauennationalmannschaft vor einem Spiel im Jahr 2011Bild: x99/ZUMAPRESS/picture alliance

UPDATE: Die Mitglieder der afghanischen Frauenfußball-Nationalmannschaft, darunter auch die Interviewte, sind evakuiert worden. 

*Hinweis: Der Name und einige Angaben zu der afghanischen Fußballerin wurden geändert bzw. weggelassen, um ihre Sicherheit nicht noch mehr zu gefährden.

"Ich weiß nicht einmal, ob ich in meinem Haus sicher bin oder nicht", sagt Jane* der DW. Die Spielerin der afghanischen Frauenfußball-Nationalmannschaft hält sich nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versteckt. Mit einem Hilferuf hatte sie sich an "Discover Football" gewandt, eine unabhängige Initiative aus Berlin, die sich für Gleichberechtigung, Emanzipation und Frauenrechte weltweit einsetzt und dafür gezielt den Fußball nutzt. "Ich schreibe Ihnen diese E-Mail aus einem Keller, da mein Leben und das meiner gesamten Familie in großer Gefahr ist. Bitte helfen Sie mir in dieser schweren Zeit! Bitte retten Sie mein Leben und das meiner Familie."

Die Organisation leitete den Hilferuf sofort an ihre politischen Kontakte in Berlin weiter. Die Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, Dagmar Freitag, hat bereits eine Liste gefährdeter afghanischer Spielerinnen und Spieler, die evakuiert werden sollen, an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Jane steht auf der Liste.

"Mein Albtraum ist Wirklichkeit geworden"

Hilferufe aus Afghanistan wie Janes werden immer häufiger. Die Bilder verzweifelter Frauen und Männern, die sich Anfang der Woche am Flughafen von Kabul an Flugzeuge klammerten, gingen um die Welt. Einer, der dabei ums Leben kam, war - wie jetzt offiziell bestätigt wurde - ein Fußballer: Zaki Anwari, der für die afghanische Junioren-Nationalmannschaft gespielt hatte. Er wurde nur 19 Jahre alt.

Auch Jane ist verzweifelt und fürchtet um ihr Leben. "Die Taliban akzeptieren keine Frauen. Wie können sie dann eine Frau akzeptieren, die Fußball spielt?", fragt sie im Gespräch mit der DW. Es sei aber nicht nur ihre Bekanntheit als Fußballerin, die dazu führe, dass sie unter dem neuen Regime "niemals akzeptiert werde", so Jane. "Ich habe auch [in meinem Beruf - Anm. d. Red.] neben 40 bis 50 Männern gearbeitet, als einzige Frau in meiner Abteilung."

Und dann sei da noch ihre politische Einstellung. "Die Taliban könnten vielleicht über unsere Arbeit und auch das Fußballspielen hinwegsehen, aber den politischen Hintergrund unserer Familien werden sie uns nie und nimmer verzeihen." In den vergangenen Jahren habe sie mehrfach demonstriert, nicht nur gegen die Taliban, auch gegen die damalige Regierung.

Die Taliban hatten am Dienstag auf einer Pressekonferenz das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und erklärt, die Rechte der Frauen würden "im Rahmen des islamischen Rechts" respektiert. "Wir werden Frauen erlauben, nach unseren Regeln zu arbeiten und zu studieren", sagte Zabihullah Mujahid. "Die Frauen werden in unserer Gesellschaft sehr aktiv sein." Für Jane sind das nur leere Worte: "Seit 20 Jahren weiß jeder, dass die Taliban, wenn sie kommen, mit den Frauen machen, was sie wollen. Sie töten sie, zwingen sie zur Heirat."

Derzeit durchsuchten die Taliban Haus für Haus, sagt die Nationalspielerin: "In den letzten vier Tagen habe ich nicht schlafen können, weil ich Angst habe, dass sie kommen werden. Früher war das nur ein Alptraum, aber jetzt ist er Wirklichkeit geworden. Mein Verstand kann es nicht akzeptieren. Jedes Mal denke ich, es ist ein Traum und wenn ich aufwache, wird alles gut. Aber wenn ich sie draußen auf der Straße sehe, habe ich solche Angst."

Alle Träume geplatzt

Aus Janes Worten spricht nicht nur das Entsetzen über die aktuelle Situation, in der sie sich befindet, sondern auch ihr großer Stolz, zu einer fortschrittlichen Generation von Frauen zu gehören. Einer Generation, die weit über den Fußballplatz hinaus, auf dem Jane ihr Land vertreten hat, große Fortschritte erreicht hat.

Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 war der Frauenfußball in Afghanistan gefördert worden. 2007 war das erste Frauen-Nationalteam des Landes gegründet worden. Die Möglichkeit, an Sportwettbewerben teilzunehmen, war eine von vielen Barrieren, die im Kampf für die Rechte der Frauen in Afghanistan durchbrochen wurden. Nun sind die Frauen, die diese Rechte auch wahrnahmen, am meisten gefährdet.

Afghanistan | Taliban Kämpfer in Kabul
Taliban patrouillieren auf den Straßen Kabuls Bild: Rahmat Gul/AP/picture alliance

"Als ich 2009 nach Afghanistan zurückkehrte, begann ich, für die Nationalmannschaft zu spielen, und ich war so glücklich", sagt Jane. "Genauso glücklich war ich, als ich mein Studium abschloss, wieder als eine der einzigen Frauen in meiner Klasse. Oder als ich einen Job in meiner Sparte bekam. Ich war stolz."

Innerhalb weniger Tage sind alle ihre Visionen von einer besseren Zukunft ihres Landes geplatzt. "Ich hatte viele Träume für Frauen in Afghanistan, für ihre Rechte, so viele Pläne. Und plötzlich, innerhalb von drei Tagen, wurden alle meine Träume, alle meine Hoffnungen zunichte gemacht. Jede Hoffnung auf selbstständige, freie Frauen ist dahin. Deshalb werde ich ihr System [das System der Taliban - Anm. d. Red.] niemals akzeptieren."

"Bitte wacht auf!"

Jane steht nach ihrer Einschätzung mit ihrer Meinung nicht allein, fühlt sich aber im Stich gelassen - auch vom afghanischen Fußballverband. Von dem habe sie seit dem Machtwechsel nichts gehört. "Der Verband wird seine Arbeit fortsetzen, ohne Frauen, nur mit den Männerteams."

Während einige von Janes ehemaligen und aktuellen Mannschaftskameradinnen im Ausland leben und spielen, sind viele noch vor Ort. Sie habe von einigen gehört, die sich an die US-Botschaft gewandt hätten, um sicher aus dem Land herauszukommen.  Für sie selbst seien die USA keine Option gewesen, sagt Jane, "weil sie in den vergangenen 20 Jahren nichts für Afghanistan getan haben. 2001 kamen sie, bombardierten die Taliban, vertrieben sie, und jetzt haben sie das ganze Land den Taliban zurückgegeben. Sie haben also nichts getan."

Ihre Familie hat damit begonnen, abgesehen von den Pässen alle Spuren ihrer Vergangenheit zu vernichten. Die Flucht außer Landes sei für sie und ihre Angehörigen die einzige Möglichkeit, um zu überleben, sagt Jane: "Ich will mein Leben nicht an diese inakzeptable Regierung verlieren. Ich will leben und ich will irgendwann zurückkommen, um etwas für mein Land, mein Volk und die Frauen hier zu tun."

Die afghanische Nationalspielerin verabschiedet sich von dem DW-Reporter mit einem Appell an die Welt: "Bitte wacht aus euren Träumen auf und seht, dass Menschen in Afghanistan sterben, und tut etwas, bitte! Nicht für mich, nicht für meine Familie, sondern für ganz Afghanistan. Die Taliban werden das ganze Land zerstören, alle Hoffnungen, alle jungen Menschen. Überlässt dieses Land nicht diesen Leuten!"

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Stefan Nestler.