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Warum und seit wann singen Menschen?

19. Februar 2024

Vögel und Wale verschaffen sich mit ihren Gesängen einen Überlebensvorteil. Evolutionsforscher Darwin glaubte, der menschliche Gesang gehe auf Paarungsrufe der Vögel zurück. Aber es gibt überzeugendere Theorien.

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Singende Frauen in Benin, traditionell gekleidet mit Gesangsbuch
Gemeinsamer Gesang unterstützt vor allem mit einer uniformen Kleidung das GruppengefühlBild: Philippe Lissac/Godong/picture alliance

Für Vögel und Wale ist Gesang überlebenswichtig - ob bei der Partnersuche, zur Kommunikation mit Artgenossen oder um Entfernungen einzuschätzen. Für den Menschen aber ist Gesang vordergründig nicht zentral fürs Überleben. Trotzdem ist er ein zentraler Bestandteil fast aller Kulte und Kulturen. Aber wann und warum fingen Menschen einst an zu singen?

Suche nach dem Ursprung des Gesangs

Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, sind keine Sänger. Zwar können bestimmte Schopfgibbons sogar im Duett singen, aber der Stimmapparat von Gorillas, Schimpansen und Bonobos erlaubt ihnen lediglich, spitze Schreie oder kehlige Laute zu äußern. 

Evolutionsforscher Charles Darwin glaubte, dass der menschliche Gesang auf die Paarungsrufe der Vögel zurückgehe, da bei Vögeln die guten Sänger bei der Partnerwahl deutlich erfolgreicher als die weniger begabten Artgenossen sind.

Singende Nachtigall (Luscinia megarhynchos) in einem Baum
Laut Darwin ist der menschliche Gesang auf den Paarungsruf der Vögel zurückzuführen Bild: Christian Naumann/Naturphotos/picture alliance

Diese Beobachtung übertrug Darwin auf den Menschen und glaubte, dass urzeitliche Männer - noch bevor sie richtig sprechen konnten - für Frauen gesungen hätten, "um das andere Geschlecht zu bezaubern" und sich so einen Fortpflanzungsvorteil zu sichern.

Allerdings lässt sich der menschliche Gesang schwerlich mit dem Vogelgezwitscher vergleichen. Zumal die ältesten bekannten Gesänge von Ur- und Naturvölkern keine Liebeslieder oder Paarungsgesänge sind, sondern rituelle, kriegerische oder religiöse Gesänge, so der deutsche Musikforscher Carl Stumpf Ende des 19. Jahrhunderts.

Gegen Darwins Balz-Theorie spricht auch, dass es gerade beim rituellen oder beim gemeinsamen Singen nicht darum geht, andere Mitsingende auszustechen, sondern gemeinsam ein melodisches Klangerlebnis zu erschaffen.

Singen stärkt die Gemeinschaft

Bereits in der Antike glaubte der griechische Philosoph Platon um etwa 400 vor unserer Zeitrechnung, dass Menschen aus einem Bedürfnis nach sozialer Harmonie heraus singen.

Diese Ansicht teilt auch der Musikpsychologe David Huron von der Ohio State University, der das Standardwerk "Sweet Anticipation" verfasst hat. Demnach singt der Mensch, weil er auf soziale Beziehungen angewiesen ist und sich einer Gruppe zugehörig fühlen will.

Dass – vor allem gemeinsames - Singen den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt, etwa bei der gemeinsamen Arbeit, im Chor oder am Lagerfeuer, ist vielfach belegt, etwa durch eine Studie, die 2016 in der Zeitschrift "Psychology of Music" erschien. Wenn Singen die Gemeinschaft stärkt, dann sichert die gestärkte Gemeinschaft auch das Überleben des Einzelnen.

Singende argentinische Fussballfans im Stadion
Fangesänge und gemeinsame Choreographien schmieden Individuen zur Gemeinschaft zusammen und können den Gegner beeindrucken. Bild: Ebrahim Noroozi/AP Photo/picture alliance

Gemeinsamer Gesang kann Ängste vertreiben und Feinde einschüchtern. Er schmiedet die einzelnen Individuen zu einer Gruppe zusammen und kann Menschenmassen auf eine Religion oder eine Ideologie einschwören. Wenn die singende Gruppe dann auch noch die gleiche, also uniforme Kleidung trägt und sich auf gleiche Weise bewegt, wird dieser Zusammenhalt noch einmal verstärkt. 

Singen schüttet Glückshormone aus

Viele Menschen singen, weil es ihnen Spaß macht und gut tut. Das ist nicht nur ein subjektives Gefühl, sondern lässt sich auch wissenschaftlich erklären.

Beim Singen werden körpereigene Glückshormone wie Endorphine, Serotonin, Dopamin und Adrenalin ausgeschüttet. Gleichzeitig werden Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin abgebaut. Vorausgesetzt, man singt gerne, verbessert Singen so nachweislich die Stimmung und den allgemeinen Gefühlszustand. Außerdem wird die Zirbeldrüse im Gehirn stimuliert, die das Hormon Melatonin produziert und den Schlaf-Wach-Zyklus reguliert. Singen fördert außerdem die Ausbildung antioxidativer Enzyme und hat so einen tumorhemmenden Effekt. 

Singen als Medizin

Wenn man in der Gemeinschaft singt, dann ist der positive Effekt noch größer. Nach mehr als einer halben Stunde Gesang schüttet das Gehirn zusätzlich das Bindungshormon Oxytocin aus. Dieses Hormon wird auch bei stark emotionalen Momenten wie beim weiblichen Orgasmus, bei der Geburt eines Kindes oder beim Stillen verstärkt produziert. Oxytocin sorgt auch dafür, dass beim Singen eine innige Beziehung zu Mitsingenden aufgebaut wird.

In den 1990er-Jahren untersuchten schwedische Forschende mehr als 12.000 Personen aus allen Altersgruppen und fanden heraus, dass Mitglieder von Chören und Gesangsgruppen eine deutliche höhere Lebenserwartung haben als Menschen, die nicht singen. Die Ergebnisse der Studie "The Choir Singing and Health Project" wurden in mehreren wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht, darunter auch "The British Medical Journal" (BMJ).

Singen kann helfen zu heilen

Viele Kulturen vertrauen auf die heilende Kraft der Stimme, um Kranke zu heilen. Denn Gesang und Musik wirken sich nicht nur auf den Hormonhaushalt aus, sondern verändern auch den Herzschlag und den Blutdruck, beeinflussen die Atemfrequenz und wirken entspannend.

Auch in der modernen Therapie wird Gesang und Musik eingesetzt, etwa bei Depressionen, Ängsten oder Traumata. Bei Ess- und Persönlichkeitsstörungen sowie bei psychosomatischen Erkrankungen oder bei Demenz kann therapeutisches Singen ebenfalls helfen.

 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund