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GesellschaftAsien

Sexueller Missbrauch auf See: "Ich konnte nirgendwo hin"

Luisa von Richthofen
29. März 2023

Sexistische Bemerkungen, Diskriminierung, sexuelle Übergriffe - für viele weibliche Seeleute ist das Teil ihres Berufslebens. Oft schweigen sie. Eine Betroffene bricht dieses Tabu.

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Blick aufs weite Meer, in einiger Entfernung ist ein Frachtschiff zu sehen
Auf hoher See fühlen sich Opfer sexueller Gewalt alleingelassen und isoliertBild: Sergej Razvodovskij/PantherMedia/IMAGO

Es war ihr Kindheitstraum, Seefahrerin zu werden. Eine gute Woche dauerte es, bis er zerbrach.

Ann (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) wählt ihre Worte zunächst vorsichtig. "Ja, als Frau macht man so einige schlechte Erfahrungen." Später sagt sie, dass sie schon in ihrer zweiten Woche an der Marineakademie vergewaltigt wird. Damals ist sie gerade sechzehn Jahre alt. Die junge Britin erzählt damals keinem davon, was passiert ist. Sie schämt sich. Heute sagt sie, sie wollte nicht, dass ihr Traum endet, bevor er überhaupt anfing. Auf Frachtschiffen liegt der Anteil weiblicher Seeleute bei gerade einmal zwei Prozent von 1,5 Millionen Beschäftigten, die meisten sind auf ihrem Schiff nur unter Männern.

Eine junge Frau hockt vor der Reling eines Schiffs, im Hintergrund das Meer und eine entfernte Küste
Seefahrerin Ann in ihrem ersten Jahr an der MarineakademieBild: Privat

"Ich war alleine"

Anderes Schiff. Mehr Übergriffe. Der Bootsmann, der für sie zuständige Ausbilder, habe sie im Visier gehabt und dafür gesorgt, dass sie immer mit ihm allein im Laderaum arbeitet, wo sie sonst keiner sehen kann. Sie lebt in ständiger Furcht vor Übergriffen, sieht ihren Peiniger bei jeder Mahlzeit. Eines Abends tritt sie aus der Dusche. Da sitzt der Schiffsoffizier in ihrem Zimmer. Er starrt sie an und grinst. Sogar in ihrer Kabine ist sie nicht in Sicherheit.

Ann meldet den Bootsmann. "Der Mann aus der Personalabteilung sagte mir, ich hätte damit rechnen müssen. Was mein Vater sich dabei gedacht habe? Er selbst hätte seine eigene Tochter nie auf See geschickt". Von da an hätte sie gewusst, dass sie alleine sei. "Ich konnte nirgendwo hin."

Blick in einen kleinen holzverkleideten Raum mit Bett, Schreibtisch, Stuhl und Fenster
"Ich kann nicht schlafen, ich weine nur", schreibt Ann in ihr TagebuchBild: Privat

Kein Einzelfall

Fälle wie den von Ann gibt es viele. "Von allen weiblichen Seeleuten, die ich in den letzten Jahren getroffen habe, gab es bisher nur eine, die sagte, sie hätte nichts derartiges erlebt", sagt Rachel Glynn-Williams, die als Psychologin Seeleute begleitet.

Ann gibt ihren Job 12 Jahre lang nicht auf. Fährt auf dem Meer durch die ganze Welt, nach Zentralamerika, durch den mittleren Osten. Sie fragt sich bei jedem Einsatz, ob es auch diesmal einen Mann in der Crew gibt, der Probleme machen wird. Und sie lernt, manchen Kollegen aus dem Weg zu gehen und "die richtigen Klamotten" zu tragen.

Irgendwann steht sie davor, selbst Kapitänin zu werden. Auch wenn über die Jahre die physischen Grenzüberschreitungen weniger werden, es bleiben die zugeflüsterten Beleidigungen, die lüsternen Blicke und das Mobbing über soziale Medien. Immer mit der impliziten Botschaft: Eine Frau hat hier nichts verloren. Schließlich nimmt sie einen Job an Land an. "Es ist fast, als hätten sie gewonnen", sagt sie im Interview mit der Deutschen Welle.

Die WISTA (Women's International Shipping & Trading Association) befragte im vergangenen Jahr 1128 weibliche Seeleute aus 78 Ländern zu dem Thema. 60 Prozent der Frauen berichteten, dass sie an Bord frauenfeindliche Diskriminierung erlebt hätten. Und 25 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Beruf körperliche und sexuelle Belästigung an Bord häufig vorkomme und dass in ihre Privatsphäre eingedrungen werde.

Schwierige Aufklärung

Es ist ein kleines Wunder, dass es diese Zahlen gibt. Denn die wenigsten Fälle kommen zur Anzeige. Opfer zögern, sich zu melden, denn oft müssen sie noch monatelang in unmittelbarer Nähe zu ihren Angreifern arbeiten. Becky Newdick, CEO von Safer Waves, einer NGO, die Opfer anonym berät, berichtet, dass viele junge Frauen ihre Karriere nicht aufs Spiel setzen möchten.

Symbolbild zum Thema sexueller Missbrauch auf Frachtschiffe
Ein sexueller Übergriff auf hoher See stellt auch rechtlich einige HerausforderungenBild: Michael Bihlmayer/Bihlmayerfotografie/IMAGO

Auch wenn sie die Vorfälle melden, kommen weitere Herausforderungen auf sie zu. Die nächsten Ärzte und zuständigen Polizeibehörden sind oft Tausende Kilometer entfernt. Ermittlungen und Spurensicherungen sind schwierig. Zeugenaussagen fehlen oft, da die Besatzung eines Schiffes oft wechselt. "Zudem ist selten eindeutig, unter welchem Recht eine Tat aufgeklärt wird, die mitten auf internationalen Gewässern stattfindet", sagt Newdick.

Psychologin: Schifffahrtsunternehmen schauen weg

Die Psychologin Rachel Glynn-Williams sagt, die Kultur der Branche sei Teil des Problems. "Was noch länger nachwirkt und manchmal fast noch belastender ist für meine Patientinnen, sind die Dinge, die danach kommen", sagt sie. Bis heute seien die Wege, einen Vorfall zu melden, zu kompliziert und belastend. Opfern würde manchmal geraten, sich daran zu gewöhnen, es wegzulächeln.

"Meine Patientinnen bekamen oft Sätze zu hören wie: 'Du weißt ja, wie er ist. Geh ihm einfach aus dem Weg'", sagt  Glynn-Williams. "Es ist fast so, als wäre es die Aufgabe des Opfers, sich davor zu schützen, statt dass man die Quelle der Bedrohung erkennt und beseitigt."

Dabei würde es auch für die Unternehmen Sinn ergeben, genau dies zu tun. Denn die Arbeit auf Schiffen ist risikoreich. Crewmitglieder müssen aufeinander zählen können. "Wenn an Bord eine toxische Dynamik herrscht, kann das die Ursache für Ablenkung und Rückzug sein", sagt die Psychologin. Das führe schnell zu einem Unfall. Es gehe nicht nur um Opfer und Täter, sondern um alle an Bord, findet die Psychologin. "Wissen Sie, es ist eine sehr risikoscheue Branche und ich kenne kein anderes Sicherheitsrisiko, das so leichtfertig gehandhabt wird."

Blick auf eine leuchtend orangene Schiffswand mit den Aufschriften: No Smoking und Safety First
Safety first? "Kein anderes Sicherheitsrisiko wird so leichtfertig gehandhabt", wie Übergriffe auf Crew-MitgliederBild: Matt Ragen/Design Pics/IMAGO

#metoo auf See

Langsam kommt etwas in Bewegung. 2021 veröffentlichte die US-Amerikanerin Hope Hicks unter dem Pseudonym "Midshipman X" einen Bericht darüber, wie sie als Kadettin an Bord eines Schiffs der amerikanischen Tochtergesellschaft von MAERSK, der weltweit größten Containerschiff-Reederei, eine Vergewaltigung überlebte. Sie schrieb, dass jede Frau aus ihrem Jahrgang an der US-Marineakademie sexuelle Belästigung oder Übergriffe auf Schiffen erlebt hätte. Mit ihrem Text löste sie Forderungen nach einem Kulturwandel in der Schifffahrt aus. Nun interessiert sich die Politik für das Thema. Ein kleiner #Metoo-Moment.

Amalie Grevsen, Verantwortliche für Cultural Transformation bei MAERSK, sagt im DW-Interview, das dänische Unternehmen nehme jeden Vorfall ernst. Seit dem "Midshipman X"-Bericht habe MAERSK Ressourcen für die Bearbeitung von Beschwerden aufgestockt und ein umfangreiches Ausbildungsprogramm für die Mitarbeiter gestartet. "Wir legen Wert darauf, eine sachkundige und robuste Organisation zu schaffen, deren Mitarbeiter wissen, wie sie im Ernstfall reagieren", sagt Grevsen.

Blick auf ein Schiff, das hoch mit Containern beladen ist und die Aufschrift MAERSK Line trägt in einem Hafen
MAERSK im DW-Interview: "Wir nehmen jeden Vorfall ernst"Bild: Jochen Tack/IMAGO

Auch Ann betreut ehrenamtlich Berufsanfängerinnen. Sie berichtet in Marineakademien in Großbritannien von ihren Erfahrungen. Sie hört von jungen Frauen immer wieder, wie sich dieselben Geschichten wiederholen. Aber immerhin sprechen sie jetzt darüber.

Raus aus der Hilflosigkeit

Sie hat noch einmal alte Fotos angesehen. Darunter ein Bild von ihrer Kabine: eine Stahltür, ein Vorhang. An der Sperrholzwand hängen ein Arbeitsoverall und ein Kopfschutz. "Wenn ich das Bild anschaue," schreibt sie, "erinnere mich daran, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, auf diese Tür zu starren, weil ich Angst hatte, dass jemand reinkommen würde. Noch nicht mal zum Essen ging ich raus!"

Seit zwei Jahren macht Ann eine Therapie. Sie sagt, es sei schwierig, doch sie schulde es ihrem Ehemann. Immer noch versucht sie, gegen ihre Schuldgefühle anzukämpfen. Sie möchte sich nicht mehr fragen, ob sie die Übergriffe irgendwie hätte verhindern können. Bei sich oder auch für die Frauen, die nach ihr kamen.

Aber sie ist jetzt hoffnungsvoller, denn das Erzählen nimmt ihren Peinigern etwas von ihrer Macht, sagt sie. "Es sollte ihre Schande sein, nicht meine."