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Gaza: Der tägliche Kampf ums Überleben in Rafah

Tania Krämer | Hazem Balousha
23. Mai 2024

Nicht nur die Menschen sind verzweifelt, auch Hilfsorganisationen sehen kaum noch Handlungsmöglichkeiten. Eindrücke aus dem Gazastreifen während der israelischen Offensive in Rafah.

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Kinder stehen an einem Bombenkrater in Rafah
Kinder stehen an einem Bombenkrater in RafahBild: AFP

Sie haben es gerade noch geschafft: Kurz bevor das israelische Militär am 7. Mai die Kontrolle über die palästinensische Seite des Grenzübergangs Rafah übernahm, konnten Ayman Mghamis und seine Familie noch nach Ägypten ausreisen. Seitdem ist das wichtigste Tor des Gazastreifens für Menschen und Hilfslieferungen geschlossen.

Doch nicht alle Mitglieder von Mghamis' Familie waren dabei: Seine Mutter und sein Bruder mussten in Rafah zurückbleiben. Dort hatte die Familie in den vergangenen Monaten Zuflucht gefunden, ähnlich wie mehr als eine Million vertriebene Palästinenser, alle auf der Suche nach einem vermeintlich sicheren Ort in diesem Krieg.

"Der Plan war, dass wir alle gemeinsam den Gazastreifen verlassen. Jetzt denke ich nur noch an meine Mutter und meinen Bruder und daran, wie ich sie aus Gaza herausbekomme, vor allem jetzt, nachdem Rafah geschlossen ist", sagt Mghamis am Telefon in Kairo. Dabei muss die Familie gerade mit ihren ganz eigenen Sorgen zurechtkommen: Plötzlich sind sie Flüchtlinge in einem fremden Land und dazu kommt die Ungewissheit, ob sie jemals nachhause zurückkehren können.

Luftbild von sehr vielen Zelten in Deir al-Balah
Zelte in Deir al-Balah, wohin viele Menschen vor der Offensive in Rafah geflohen sindBild: Ashraf Amra/Anadolu/picture alliance

Die Familie hatte nicht genug Geld, um die Ausreise für alle zu bezahlen. In den vergangenen Monaten sind die "Gebühren" für eine Ausreisegenehmigung exorbitant in die Höhe gegangen. Diese müssen an ein Reisebüro und Mittelsmänner gezahlt werden, will man überhaupt auf die Liste der zugelassenen Reisenden kommen. Nur mit Hilfe einer Crowdfuning-Kampagne im Internet konnte Mghamis das nötige Geld dafür aufbringen.

Jetzt kann er nur aus der Ferne beobachten, wie das israelische Militär die zunächst als "begrenzt" bezeichnete Bodenoffensive im Osten Rafahs nach und nach ausweitet. Auch im Norden und im Zentrum des Gazastreifens kam es wieder zu heftigen Beschuss und neuen Kämpfen in Gebieten wie Dschabalija, aus denen sich die Armee schon zurückgezogen hatte.

Kaum Kommunikation und ständige Sorgen

"Ich kommuniziere alle zwei bis drei Tage mit ihnen, oft gibt es kein Internet oder eine stabile Telefonverbindung. Das ist nervenaufreibend", sagt Mghamis, ein Hip-Hop-Künstler und Musiker aus Gaza-Stadt, über seine zurückgelassenen Familienmitglieder. "Wir sind hier, sie sind dort, und ich kann nur hoffen, dass ihnen nichts zustößt. Das geht mir nicht aus dem Kopf."

Auch Mghamis und seine Familie wurden während des Krieges mehrfach vertrieben. Die vergangenen Monate hatten sie in einem Zelt in Al-Mawasi im Westen Rafahs verbracht. 

Menschen suchen in einem zerstörten Gebäude in Rafah nach Brauchbarem
Männer suchen in einem zerstörten Gebäude in Rafah nach BrauchbaremBild: AFP/Getty Images

Anfang Mai hatte das israelische Militär die Bewohner angewiesen, die östlichen Viertel von Rafah zu evakuieren und nach Al-Mawasi zu gehen, ein sandiges Gebiet an der Westküste des Gazastreifens. Ein Gebiet, das nach Angaben von Hilfsorganisationen für die Unterbringung von hundertausenden von Menschen aufgrund mangelnder Infrastruktur nicht geeignet ist.

Seitdem haben nach Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 800.000 Menschen die Wohngebiete oder ihre Zelte verlassen. Auch viele, die noch keinen Evakuierungsbefehl erhalten haben, haben sich auf den Weg gemacht - aus Angst vor dem Vorrücken der Armee und intensivem Beschuss.

Den Gazastreifen, seine Heimat, wollte Ayman nie verlassen, erzählt er im Gespräch. Aber nun habe ihn der Krieg dazu gezwungen, diese Entscheidung zu treffen, damit seine Kinder sicher sind und er ihnen eine Zukunft aufbauen kann.

Alptraum des täglichen Überlebens

Auch Khalil Khairy aus Gaza-Stadt, der mit seiner Familie schon mehrfach vertrieben wurde, musste seinen Rückweg von Rafah nach Nuseirat organisieren, einem Flüchtlingslager im Zentrum des Gazastreifens, das auf den arabisch-israelischen Krieg von 1948 zurückgeht.

Dabei hatte er die Ausreise schon organisiert. "Wir waren schockiert, als die israelische Armee in Rafah einmarschierte und der Grenzübergang Rafah geschlossen wurde. Ich habe einige Tage lang in der Nähe gewartet, dass unsere Namen auf der Liste auftauchen", sagt er am Telefon in Nuseirat. Doch dazu kam es nicht mehr.

Der 74-Jährige und seine Familie kamen im März 2024 in Rafah an. Einige Familienmitglieder hatten den Gazastreifen bereits in den vergangenen Wochen verlassen können, aber er blieb mit seiner Frau, einem seiner Söhne und seinen Enkeln zurück.

Israelische Panzer zwischen Palmen vor dem Grenzübergang Rafah
Israelische Panzer vor dem Grenzübergang Rafah nach der Einnahme am 7. MaiBild: Israeli Army/AFP

"Ich lebe in einem Alptraum des täglichen Überlebens. Ich bin ein alter Mann, aber meine Kinder und Enkelkinder sollten es eigentlich einmal besser haben", sagt er.

Noch vor zwei Wochen habe er gehofft, dass beide Seiten eine Feuerpause vereinbaren würden. Doch dann endeten indirekte Gespräche zwischen Israel und der Hamas in Kairo über einen vorübergehende Waffenruhe und die Freilassung einiger Geiseln ergebnislos. Erst am Mittwoch stimmte das israelische Kabinett zu, erneut Verhandlungen aufzunehmen.

Israel rückt trotz internationalen Drucks in Rafah vor

Trotz des internationalen Drucks auf Israel, von einer umfassenden Invasion in Rafah abzusehen, hat das israelische Militär seinen Vorstoß während der vergangenen Tage ausgeweitet. Premierminister Benjamin Netanjahu hat wiederholt erklärt, das Militär müsse in Rafah einmarschieren, um die Hamas zu entmachten, da sich deren Kämpfer unter der örtlichen Bevölkerung versteckten.

In fast acht Monaten Krieg sind nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums mehr als 35.500 Menschen in Gaza ums Leben gekommen. Rund 80 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner wurden mehrfach vertrieben, und weite Teile der Enklave gelten als völlig zerstört.

Mit ihren Habseligkeiten fliehen Menschen aus Rafah
Mit ihren Habseligkeiten fliehen Menschen aus RafahBild: Ali Jadallah/Anadolu/picture alliance

Israel begann den Krieg, nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 in den Süden Israels vorgedrungen war und dabei fast 1200 Menschen, die meisten Zivilisten, tötete und etwa 240 Menschen in den Gazastreifen entführte. Die Hamas wird von vielen Ländern, darunter Israel, Deutschland und den Vereinigten Staaten, als terroristische Organisation eingestuft.

Israels Offensive im Osten Rafahs und die erneuten Kämpfe im Norden und im Zentrum des Gazastreifens haben zu einer weiteren dramatischen Verschlechterung des Zugangs zu lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung geführt.

"Alle Vorhersagen über die Folgen einer Operation in Rafah sind eingetreten. Es gibt fast keine Lebensmittel mehr, und die humanitären Bemühungen stecken fest", erklärte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths, am Samstag in einem Beitrag auf X.

Unsichere Lage erschwert Arbeit für humanitäre Organisationen

Die kritische humanitäre Lage spielte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung von Karim Khan, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Haftbefehle gegen Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen angeblicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beantragen.

Khan wirft ihnen vor, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein.

Verteidigungsminister Joav Galant (li.) und Premier Benjamin Netanjahu
Verteidigungsminister Joav Galant (li.) und Premier Benjamin NetanjahuBild: Shir Torem/IMAGO/UPI Photo

Der Chefankläger beantragte zudem Haftbefehle gegen die Hamas-Führer, Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh wegen Kriegsverbrechen.

In den vergangenen Wochen haben die israelischen Behörden zwei Grenzübergänge im Norden des Gazastreifens, den Erez- und den Erez-West-Grenzübergang, geöffnet. Kämpfe im Norden machen die Verteilung von Hilfsgütern jedoch unsicher, sagen Hilfsorganisationen. Und am Freitag kamen erstmals Lastwegen mit Hilfsgütern über den von den US-gebauten provisorischen Pier im Gazastreifen an, allerdings gab es in den darauffolgenden Tagen Probleme mit Lieferungen. Der Grenzübergang Rafah bleibt geschlossen.

Am Dienstag gaben das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA und das Welternährungsprogramm (WFP) über X bekannt, dass sie ihre Hilfsmaßnahmen in Rafah aussetzen müssen, weil die israelische Militäroffensive im Osten Rafahs die Verteilungszentren und Lagerhäuser unzugänglich gemacht hatten.

Sorge um die Helfer

John Kahler, ein Kinderarzt aus Chicago und Mitbegründer der humanitären Nichtregierungsorganisation MedGlobal, steht in täglichem Kontakt mit seinem palästinensischen Team in Rafah. Kahler war unterwegs zu seiner dritten Mission in den Gazastreifen, als der Grenzübergang Rafah plötzlich geschlossen wurde. Ein Großteil der internationalen Hilfsmaßnahmen konzentriert sich auf die Gegend um Rafah und muss nun wegen der Militäroffensive und der Kämpfe verlegt werden.

Evakuierung eines Krankenhauses nach einem Luftangriff im Norden des Gazastreifens
Evakuierung eines Krankenhauses nach einem Luftangriff im Norden des Gazastreifens Bild: Osama Abu Rabee/REUTERS

"Ich wurde darüber informiert, dass wir unser primäres Gesundheitszentrum und unser Zentrum zur Stabilisierung der Ernährung verlegen müssen, weil sie in dem Gebiet liegen, das evakuiert werden soll," sagt Kahler am Telefon. Er sorgt sich nun vor allem um die Sicherheit seiner Mitarbeiter in Rafah.

"Es ist absolut beängstigend", sagt er. "Man muss darauf vertrauen, dass die angreifende Partei die Koordinaten beachtet, die man ihnen gibt". Die MedGlobal-Klinik wurde bislang nur von Splittern aus einer nahe gelegenen Explosion getroffen.

Fehlende Grundversorgung macht Hilfe schwieriger

Kahler bezeichnet die Situation in dem belagerten Gebiet, die er bei früheren Einsätzen während des Krieges hautnah miterlebt hat, als "dystopisch". Der Mangel an Grundversorgungsgütern mache auch seine Arbeit mit Kindern schwieriger. 

"Als ich die Kinder behandelt habe, wurde mir bewusst, dass die Eltern buchstäblich 100 Prozent der Ratschläge, die ich ihnen gegeben hatte, nicht umsetzen konnten", sagt er und verweist auf den Mangel an sauberem Wasser, Windeln und Medikamenten.

Am Sonntag wurden bei Luftangriffen auf das Flüchtlingslager Nuseirat nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds mindestens 27 Menschen getötet. Khairy, der in diesem Gebiet Zuflucht gesucht hat, sagt, ein Ende der Kämpfe sei nicht in Sicht.

"Dieser verrückte Krieg muss aufhören. Die Politiker müssen eine Lösung finden, die das Leiden der Menschen beendet", sagt er. "Ich weiß nicht wie, aber das ist es, was alle Menschen im Gazastreifen wollen, auch ich."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin