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PolitikUkraine

Checkpoint zur Flucht aus den besetzten Gebieten der Ukraine

4. Mai 2024

Über einen Kontrollpunkt an der russisch-ukrainischen Grenze in der Region Sumy können Ukrainer aus den besetzten Gebieten in die von Kiew kontrollierten Teile der Ukraine entkommen. Betroffene erzählen ihre Geschichte.

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Ein Mann mit einer großen Tasche am Grenzübergang Kolotilowka-Pokrowka
Flucht über den Grenzübergang Kolotilowka-Pokrowka

Täglich fahren Busse freiwilliger Helfer von der Stadt Sumy zur ukrainisch-russischen Grenze und zurück. Sie sammeln Menschen ein, die die Grenze am Kontrollpunkt Kolotilowka-Pokrowka überqueren. Kolotilowka ist ein Dorf in der russischen Region Belgorod und Pokrowka liegt in der ukrainischen Region Sumy. Seit April 2022 gibt es dort einen humanitären Korridor, über den Ukrainer aus den russisch besetzten Gebieten in die von Kiew kontrollierten Teile der Ukraine gelangen können. Dies ist der einzige Grenzabschnitt zwischen der Ukraine und Russland, der im Krieg passiert werden kann.

Im Bus nach Sumy sitzen elf Personen und ein jaulender Dackel. Es sind meist Frauen und ältere Menschen, doch auch zwei Teenager sind dabei. Manche schauen müde aus dem Fenster, andere dösen. Einige von ihnen waren mehrere Tage unterwegs. Ein Teil ihrer Flucht verlief durch eine zwei Kilometer lange "Grauzone" zwischen Kolotilowka und Pokrowka, die sie zu Fuß mit ihren Sachen in der Hand durchqueren mussten. Da Journalisten in Pokrowka nicht zugelassen sind, kann man mit den Menschen erst im Bus nach Sumy sprechen.

Entschlossen bis zur Grenze zu kriechen

"Alle gingen voraus, aber ich war langsamer", sagt der Rentner Viktor aus der Region Luhansk über seinen Weg durch die "Grauzone". Neben ihm im Bus steht ein zusammengeklappter Rollstuhl. Der Mann hat beide Beine amputiert - eines bis zum Oberschenkel, das andere bis zum Knie. Den Rollstuhl gab er seiner Frau Ljudmila, damit sie das Gepäck durch die "Grauzone" transportiert. Viktor entschied sich, mit Hilfe einer selbstgemachten Unterlage aus Kissen und Holzgriffen den Weg kriechend zurückzulegen, doch die zwei Kilometer erwiesen sich als zu beschwerlich. "Schon als ich die Grenze passierte, war mir klar, dass ich es nicht schaffen würde", gibt Viktor zu.

Viktor ohne Rollstuhl kriechend auf dem Weg durch die "Grauzone"
Für Viktor war der Weg durch die "Grauzone" besonders beschwerlichBild: Pluriton

Als Ljudmila den ukrainischen Kontrollpunkt erreichte, rief sie Freiwillige um Hilfe, die in die "Grauzone" dürfen und dort zusammen mit dem Roten Kreuz jeden Tag Ukrainer aufgreifen. Sie kamen Viktor mit einem Rollstuhl entgegen und halfen ihm, auf die ukrainische Seite zu kommen. Im Bus nach Sumy sagt der Rentner: "Was sich ein Mensch wünscht, stimmt nicht immer mit seinen Fähigkeiten überein. Aber mein Wille war so stark, dass ich einfach losgelegt habe."

"Man fühlt sich jetzt wie unter Freunden"

Im Jahr 2014 hatten Viktor und Ljudmila den besetzten Teil der Region Luhansk verlassen und waren in das Dorf Zarjowka gezogen, das in dem von Kiew kontrollierten Teil der Region liegt. Dort kauften sie ein Haus, renovierten es und legten einen Garten an. Viktor, der vor Jahren aufgrund einer Gefäßerkrankung seine Gliedmaßen verlor, kümmerte sich um den Haushalt. Doch schon wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 wurde das Dorf besetzt.

Den Eheleuten zufolge gibt es in Zarjowka nur noch wenige pro-ukrainische Einwohner. Diejenigen, die geblieben seien, würden sich mit den Besatzern arrangieren. Ljudmila sagt, sie und ihr Mann wollten keinen russischen Pass. Dafür seien sie im Krankenhaus nicht mehr behandelt worden.

Viktor sitzt in einem Rollstuhl und Ljudmila steht neben ihm in einem Gebäude
Viktor und Ljudmila aus dem besetzten Teil der Region Luhansk

Viktor und seine Frau zögerten lange mit der Flucht, denn ihnen war klar, dass sie für Viktor beschwerlich sein würde. Um aus den russisch besetzten Gebieten in den von Kiew kontrollierten Teil der Ukraine zu gelangen, muss man erst über Russland in ein europäisches Land reisen. Doch das wäre für sie, wie Viktor sagt, sehr langwierig und teuer. Somit war der Übergang Kolotilowka-Pokrowka für das Ehepaar die einzige Option. Die Kontrollen verliefen dort schnell. Viktor ist glücklich und hat Tränen in den Augen: "So viel Wärme habe ich nur von meiner eigenen Mutter erfahren. Man fühlt sich jetzt wie unter Freunden!" Viktor und Ljudmila wollen weiter nach Kiew, wo ihre Kinder und eine vor wenigen Monaten geborene Enkelin auf sie warten.

Befragung, Unterstützung und Weiterreise

In Pokrowka an der ukrainisch-russischen Grenze prüfen Beamte die Papiere und Habseligkeiten der Menschen, die aus den besetzten Gebieten kommen. "Sie durchforsten auch Datenbanken nach ihnen", sagt Roman Tkatsch vom Grenzschutz, was unter strengen Sicherheitsmaßnahmen geschehe. Dann bringt der Bus die Menschen zum Freiwilligenzentrum in Sumy, wo sie von den ukrainischen Behörden befragt und von den Sozialdiensten registriert werden. Dort bekommen sie auch Hilfe bei allem möglichen Papierkram, erhalten eine kostenlose ukrainische SIM-Karte und auch ein Mittagessen.

In Sumy kümmern sich Sozialarbeiter an Computern und Tischen um geflüchtete Menschen
In Sumy kümmern sich Sozialarbeiter um die geflüchteten Menschen

Als nächstes bringen die freiwilligen Helfer die Menschen zu einer Unterkunft, wo sie sich waschen, übernachten und mehrere Tage verweilen können. Danach dürfen sie kostenlos mit dem Zug nach Kiew, Poltawa, Charkiw oder Dnipro fahren. Wie sich herausstellt, wissen schon alle, wohin es für sie weitergeht.

"Überall waren Drohnen und russische Soldaten"

Der Rentner Mychajlo, der von Beruf Busfahrer war, will zu seiner Tochter Anna nach Charkiw. Der Mann kommt aus dem Dorf Tawolschanka, das im besetzten Teil der Region Charkiw liegt. 40 Jahre lebte Mychajlo dort, aber sein Haus steht unter Beschuss. "Überall, wo man hinsieht, sind Drohnen und russische Soldaten. Sie haben alles aus den Häusern herausgeschleppt und abmontiert, wie Türen, Bodenbeläge und Teppiche, weil sie sich Unterstände bauen", erzählt der Rentner aufgebracht. Viele seiner einstigen Mitbewohner im Dorf bezeichnet er als "Kollaborateure", doch viele von ihnen seien inzwischen nach Russland gezogen. Auch Mychajlo betont, er habe einen russischen Pass abgelehnt.

Mychajlo isst im Freiwilligenzentrum in Sumy zu Mittag
Mychajlo isst im Freiwilligenzentrum in Sumy zu Mittag

"Wir wurden von jemandem im Dorf verraten"

Die 18-jährige Anastasia verließ zusammen mit ihrem Freund Petro (Namen geändert) den russisch besetzten Teil der Region Cherson. Im Dezember war Petro 18 Jahre alt geworden und schon im März erhielt er von der russischen Armee eine Vorladung. "Wir beschlossen zu fliehen, weil ich fürchtete, man könnte ihn einfach einziehen", erzählt Anastasia. Zuhause hat sie ihre Mutter, ihren siebenjährigen Bruder und ihre 80-jährige Großmutter zurückgelassen.

Auf ihren Vater, der in den Streitkräften der Ukraine dient, trifft Anastasia in Sumy. Er hatte sich im Dezember 2021 der Territorialverteidigung angeschlossen und war in der Region Tschernihiw im Einsatz, als die großangelegte russische Invasion begann und seine Familie in Cherson plötzlich unter russische Besatzung geriet. Nun sieht er erstmals seit über zwei Jahren seine Tochter wieder. Beide weinen und umarmen sich lange.

Etagenbetten in einer Unterkunft in Sumy mit Übernachtungsmöglichkeiten für Ankömmlinge
Unterkunft in Sumy mit Übernachtungsmöglichkeiten für Ankömmlinge

"Wir wurden von jemandem im Dorf verraten, dass mein Vater Militärangehöriger ist", beklagt Anastasia. Daraufhin seien die Männer, die Anastasia als Vertreter des russischen Geheimdienstes FSB bezeichnet, gekommen und hätten Einsicht in die Korrespondenz mit ihm verlangt. "Ich hatte sie längst gelöscht und gesagt, dass ich mit ihm nicht in Kontakt stehe", erzählt Anastasia und fügt hinzu, dass "der FBS" ihre Familie dazu gedrängt habe, russische Pässe zu beantragen. "Sie drohten, sollten wir in zwei Wochen keine russischen Pässe haben, würde man uns abholen oder sonstwas mit uns tun. Sie machten Fotos, nahmen Fingerabdrücke ab und verhörten meine Mutter. Sie waren sehr hart", erinnert sich Anastasia. Mit ihrem Freund Petro wird sie bei ihren Großeltern väterlicherseits unterkommen, die in der Region Poltawa leben.

Korridor trotz zunehmendem Beschuss offen

Derzeit nutzen den humanitären Korridor Kolotilowka-Pokrowka täglich 20 bis 40 Menschen aus den besetzten Teilen der Gebiete Donezk, Luhansk, Charkiw, Cherson und Saporischschja, aber auch von der schon seit 2014 von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim, sagt Roman Tkatsch vom ukrainischen Grenzschutz. Der Grenzübertritt ist nur bei Tageslicht möglich, und nur in eine Richtung - von Russland in die Ukraine und nur für ukrainische Staatsbürger. Man braucht einen Reisepass oder einen anderen Ausweis. Aber selbst wenn man keinen hat, können die Beamten ukrainischen Staatsbürgern die Einreise nicht verweigern. "Ukrainische Staatsbürger haben ein verfassungsmäßiges Recht, in das Hoheitsgebiet der Ukraine einzureisen", so Tkatsch. Trotz des derzeit zunehmenden Beschusses in der Region ist der Korridor offen. Verletzt wurde dort bislang noch niemand.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Wie steht es um die Kampfmoral der ukrainischen Soldaten?