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Antiziganismusbeauftragter: "Schreiendes Unrecht"

29. März 2023

In Deutschland steigt die Zahl gemeldeter Straftaten und Diskriminierungen gegen Sinti und Roma. Was sind die Ursachen, was muss geschehen? Mehmet Daimagüler im DW-Interview.

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Mehmet Daimagüler Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung
Bild: Martin Schutt/dpa/picture alliance

Deutsche Welle: Herr Daimagüler, Sie wurden im März 2022 berufen als Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland. Was ist Antiziganismus und wie wirkt er sich aus?

Mehmet Daimagüler: Antiziganismus ist eine spezifische Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet oder gegen Menschen, die als Sinti oder Roma gelesen werden. Antiziganismus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten.

Eine Quelle ist der unaufgearbeitete Völkermord an den Sinti und Roma, dem etwa eine halbe Million Menschen in Europa zum Opfer gefallen sind. Dazu kommt das, was die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) zweite Verfolgung genannt hat: Ausgrenzung und Diskriminierung der Menschen nach 1945.

Ein Beispiel: Überlebende kamen zurück an ihren Heimatort. Dort wurde ihnen die Ausstellung von Ausweispapieren verweigert. Begründung: "Z" (Redaktion: Die Minderheit wurde unter der Fremdbezeichnung "Zigeuner" verfolgt und in Konzentrationslagern ermordet) könnten keine Deutschen sein. Menschen, deren Familie seit Jahrhunderten auf dem Gebiet Deutschlands lebt!

Bei einem Treffen von Selbstorganisationen in Köln sagten mir junge Menschen, ihre (Ur-)Großeltern hätten die Lager überlebt, aber keine Papiere bekommen. "Wir sind immer noch staatenlos." Das ist schreiendes Unrecht.

Blick auf eine große Zahl junger Menschen, die in einem Saal sitzen und nach vorne schauen
Junge Menschen an der Universität Köln: Nachfahren verfolgter Sinti und Roma sind bis heute benachteiligtBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Wir haben eine Anerkennung des Völkermords erst spät erlebt, 1982. In Fragen der Wiedergutmachung wurden Sinti und Roma im Vergleich zu anderen Opfergruppen schlechter behandelt. Noch heute liegen Musikinstrumente in Museen, die Sinti und Roma gehörten. Die rechtmäßigen Eigentümer wären deren Nachkommen.

Wie können Sie den staatenlosen Menschen helfen?

Wir sind ein kleines Team und haben nicht die Kapazität, um Einzelfallberatung zu machen. Aber wir sehen Gesetzesnovellen. Wenn ein Gesetzentwurf zum Staatsangehörigkeitsrecht kommt, weisen wir darauf hin, dass Menschen nach dem Krieg rechtswidrig ausgebürgert wurden und ihre Nachfahren heute noch staatenlos in Deutschland leben. Wir drängen auf gesetzliche Änderungen, um diese Zustände zu ändern.

Die Bundesregierung hat für 2022 die Zahl von 145 antiziganistischen Straftaten genannt, so viele wie nie zuvor. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

Ich glaube, dass diese Zahl nur einen Bruchteil der Realität darstellt. In meiner anwaltlichen Tätigkeit hatte ich alleine schon im Jahr manchmal 20, 30 Fälle von antiziganistischer Hasskriminalität.

Viele Betroffene können sich keinen Anwalt leisten. Wir haben es mit Polizeibehörden zu tun, die bei der Kriminalisierung von Sinti und Roma viel Energie zeigen, aber nicht bei der Unterstützung im Kampf gegen Hasskriminalität. Das führt zu einem Kreislauf: Betroffene haben so wenig Vertrauen, dass sie sich nicht an die Polizei wenden, weil die Gefahr besteht, dass anschließend sie die Beschuldigten sind.

Blick auf die Seite eines hellen Fahrzeugs mit blauem Streifen und der Aufschrift Polizei
Viele Sinti und Roma scheuen den Weg zur Polizei, weil sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben Bild: Fotostand/picture alliance

Es gibt Ausnahmen: 2021 gab es in Ulm einen Angriff von Neonazis auf eine Gruppe von Roma aus Frankreich. Da haben Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und Landgericht vorbildlich die antiziganistischen Aspekte der Tat aufgearbeitet.

Der Anstieg bedeutet, dass die Zahlen wirklich steigen, aber auch, dass Menschen bereit sind, sich zu wehren. Ich habe angeregt, dass man im Strafgesetzbuch bei den Strafzumessungsgründen neben Rassismus und Antisemitismus auch Antiziganismus einfügt. Es ist wichtig, dass die Strafverfolgungsbehörden das Signal bekommen, dass der Gesetzgeber das ernst nimmt. Wir reden über Menschen, die vor wenigen Jahrzehnten Opfer eines Völkermordes geworden sind. Das sollte Anlass genug sein, alles zu tun, um sie zu schützen.

Ein Mann im Hemd mit weißen Armen hat den Arm um die Schulter einer älteren Frau gelegt, die die Augen geschlossen hat und einen traurigen Eindruck macht
2022: Der Antiziganismusbeauftragte Mehmet Daimagüler traf bei einem Besuch in der Ukraine auch Überlebende des NS-Völkermords an den Sinti und RomaBild: Privat

Sie haben als Anwalt auch ein elfjähriges Kind vertreten, worum ging es?

Der Elfjährige wurde 2021 ohne Grund von vier Polizeibeamtinnen und -beamten in Handschellen gelegt und auf die Wache gebracht. Sie wussten, dass er Sinto ist. Ein elfjähriges Asthma-krankes Kind in Handschellen auf der Polizeiwache. So etwas kennt man aus Alabama oder Mississippi, wo rassistische Südstaaten-Polizisten schwarze Kids von der Schule zur Polizei verschleppen. Die Familie des Elfjährigen hat sich an die Selbstorganisation der Sinti und Roma gewandt.

Am Ende wurden zwei Polizeibeamte verurteilt. Gegen zwei wurde das Verfahren eingestellt, gegen eine hohe Auflage. Die Staatsanwaltschaft aber ging trotz klarer Hinweise auf den antiziganistischen Hintergrund nicht von einem rassistischen Fall aus. Bis heute hat sich niemand bei dem Kind entschuldigt.

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat mit dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma vereinbart, gegen Antiziganismus vorzugehen. Wie wichtig ist das?

Die Kooperationsvereinbarung ist ein großer Schritt nach vorn und lange überfällig. Aber: Polizeibehörden, auch das BKA, müssen sich überlegen, ob nicht ihre Kriminalitätsbekämpfung und Kommunikation rund um "Clan-Kriminalität" zum Antiziganismus beiträgt. Die Clan-Debatten widersprechen wesentlichen Erkenntnissen der kriminologischen Forschung. Für mich klingt das wie ein Echo der Sippen-Gedanken der 1930er Jahre.

In einem Polizeipapier stand: "Über 200.000 Personen gehören kriminellen Clan-Familien an - aber nicht alle sind kriminell". Warum zählt man sie dann mit? Bei Tatverdächtigen aus der Mehrheitsgesellschaft macht man das ja auch nicht.

Zwei Männer im Hemd, Krawatte und dunklem Anzug geben sich die Hand. Im Hintergrund ist eine Stellwand mit Fotos zu erkennen
Zusammenarbeit gegen Antiziganismus vereinbart: Romani Rose (li.), der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und Holger Münch, Präsident des BundeskriminalamtsBild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Natürlich gibt es organisierte Kriminalität in allen Teilen der Gesellschaft, aber das Strafrecht hat genug Instrumente: Bildung von kriminellen Vereinigungen, Täterschaft, Teilnahme, Anstiftung oder Beihilfe. Was mir nicht einleuchtet, ist die Ausweitung der polizeilichen Kampfzone auf Familienangehörige, von der überwiegend Kurden, Araber und auch Sinti und Roma betroffen sind.

Die Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA) dokumentiert für 2021 und 2022 in Berlin 372 antiziganistische Vorfälle. Wächst das Problem oder das Bewusstsein?

Es kann sein, dass Menschen mehr und mehr bereit sind, sich zu wehren. Es kann auch sein, dass die Zahlen an sich steigen. Wir haben in den letzten Jahren einen gesellschaftlichen Wandel in Deutschland gesehen, wo Dinge, die früher zu Recht tabuisiert waren, heute von Abgeordneten in Parlamenten geäußert werden - von alten und neuen Nazis.

Minderheiten wie Sinti und Roma können eine Art Pulsmesser sein für die Veränderung. Sie spüren zuerst - ähnlich wie jüdische Menschen, wenn der Wind sich dreht. Ich würde mir wünschen, dass man den Kampf gegen Antiziganismus begreift als Kampf für unsere demokratische Grundordnung.

DOSTA nennt Diskriminierung in allen Lebensbereichen, was ist der größte Grund zur Besorgnis?

Rassismus in staatlichen Institutionen ist in doppelter Hinsicht gefährlich. Es gibt den Betroffenen das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein. Und: Was in staatlichen Strukturen passiert, hat Vorbild- und Signalwirkung. Wir können nicht als Politik zum Kampf gegen Rassismus aufrufen und gleichzeitig rassistische Praktiken anwenden wie Racial Profiling bei der Polizei. Jeder Rassist wird sich dadurch bestätigt fühlen.

Wir haben Diskriminierungsmeldungen überall, wo der Staat auf Menschen aus der Community trifft: bei Arbeitsagenturen, Polizei, Justiz oder in der Bildung. Dort wird das System der Förderklassen als Abschiebebahnhof für migrantische und Roma-Kinder benutzt.

Es kann nicht sein, dass vielen dieser Kinder keine echte Chance gegeben wird und viele von ihnen die Schule ohne Abschluss verlassen müssen. Wir müssen die Einwanderung, die wir schon haben, zum Erfolg führen.

Was wollen Sie in Ihrem Amt erreichen?

Erstens: Wir müssen unsere Vergangenheit aufarbeiten. Das heißt: Anerkennung von NS-Unrecht und Einsetzung einer Wahrheitskommission, die die zweite Verfolgung nach 1945 untersucht und Strategien entwickelt, um den anhaltenden negativen Folgen für die Betroffenen entgegenzuwirken.

Blick auf ein weites Gelände mit einzelnen gemauerten Schornsteinen, vorne links stehen zahlreiche Kränze vor einem Denkmal, ein Mann bückt sich, um eine Schleife zu richten. Im Hintergrund schauen viele Menschen zu
Verneigung vor den Toten 2022: Der Antiziganismusbeauftragte Mehmet Daimagüler am Mahnmal für die ermordeten europäischen Sinti und Roma auf dem Gelände des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-BirkenauBild: Privat

Zweitens: Wir müssen im Bildungsbereich gerade mit Blick auf zugewanderte Roma eine echte Chancengleichheit herstellen und das Thema Rassismus gegen Sinti und Roma ernst nehmen.

Drittens: Es wäre an der Zeit, dass wir als Land uns positiv bekennen zu der Vielfalt durch die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte und der, die wir schon immer hatten. Wir haben vier nationale Minderheiten: die Friesen, Dänen, Sorben und die Sinti und Roma. Diese Minderheiten haben einen enormen Anteil an der Entwicklung unseres Landes von der Kultur bis zur Wirtschaft. Lasst uns diese Vielfalt nicht nur annehmen, sondern auch feiern!

Eine Gruppe von 12 Personen hat sich in einem großen Raum fürs Foto aufgestellt, viele lachen und schauen sich an, einige halten eine blau-grüne Flagge mit einem roten Rad in die Kamera
Amaro Foro in Berlin ist eine der Selbstorganisationen von Roma und Nicht-Roma, die sich gegen Antiziganismus und für Chancengerechtigkeit einsetzenBild: Sarah Eick/Amaro Foro e.V.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Eine Community, die nicht länger bereit ist, sich all das, was ihnen angetan wird, gefallen zu lassen. Menschen, die sich wehren, die selbst wissen, was gut für sie ist. Gerade die Jüngeren in der Community - die Energie und die Kampfbereitschaft finde ich imponierend. Das gibt mir sehr viel Hoffnung.

Das Gespräch führte Andrea Grunau.