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Adiós, amigues? Argentinien und das Gendern

30. Juli 2022

Die Stadtregierung von Buenos Aires hat die Nutzung von genderneutralem Spanisch an Schulen verboten. Was folgte, war ein Sturm der Entrüstung.

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Argentinien Buenos Aires Schule
An den Schulen in Buenos Aires ist die gendergerechte Sprache nicht erlaubtBild: Patricio Murphy/Zuma/picture alliance

90 komprimierte Sekunden, nur ein kurzes Tiktok-Video, das viral ging, und vielleicht wurde es sogar inszeniert. Aber im Grunde ist das auch egal. Viel besser kann man jedenfalls den Streit über den Gebrauch der inklusiven Sprache in Argentinien nicht erklären - und den Riss, der auch bei diesem Thema durch die argentinische Gesellschaft und sogar viele Familien geht.

Ein Vater geht mit seiner Tochter in Puerto Madero, dem Hafenviertel der Hauptstadt Buenos Aires, zu Mittag essen. Sie schickt ihrer Freundin eine Audionachricht und gendert - bis ihrem Vater, auf den die ganze Zeit die Kamera gerichtet ist, die Hutschnur platzt. "Du kannst nicht so reden, das ist falsch", versucht er sie, immer aufgebrachter, zu korrigieren.

Argentinien streitet über das Gendern

Auf der anderen Seite sind auch gerade sehr viele Argentinierinnen und Argentinier ziemlich verärgert. Und das hat vor allem mit Soledad Acuña zu tun. Die Bildungsministerin der Stadt Buenos Aires verkündete im Juni die sogenannte Resolution 2566/2022 zur "Regulierung des Gebrauchs der inklusiven Sprache an den privaten und öffentlichen Schulen der Hauptstadt": Lehrer dürfen demnach weder mit ihren Schülern noch mit den Eltern die neuen Begriffe benutzen.

Überfordert gendergerechte Sprache Schülerinnen und Schüler?

Acuña ist seit knapp sieben Jahren Bildungsministerin der Metropole und hat sich deswegen schon ein ziemlich dickes Fell zugelegt. Was sie jetzt auch braucht, denn es hagelt Kritik: Bildungsminister Jaime Perczyk verglich das Verbot mit der Franco-Diktatur in Spanien, als Linkshänder in den Schulen gezwungen wurden, mit rechts zu schreiben. Fünf Klagen von Menschenrechtsorganisationen flatterten bei der Stadtregierung herein.

Die 47-jährige Politikerin fragt jedoch: "Wie bekommen wir es hin, dass eine große Zahl von Jungen und Mädchen, die weder lesen noch einen Text verstehen können, dies hinbekommen. Ich glaube, dass die inklusive Sprache jemanden, der gerade lernt zu lesen und zu schreiben, verwirrt, weil viele Wörter sich nicht aussprechen lassen."

Argentinien Buenos Aires | Soledad Acuña
"Wir bekamen große Unterstützung, auch wenn ein Teil der Gesellschaft nicht damit einverstanden ist" - Soledad AcuñaBild: privat

Acuña kann sich auf prominente Unterstützung berufen. Die Real Academia Española, kurz RAE, die seit ihrer Gründung 1713 für die Bewahrung der spanischen Sprache verantwortlich ist, bezeichnete die im Spanischen übliche maskuline Grammatik als "fest etabliert", sie "beinhalte keine sexuelle Diskriminierung".

Corona sorgt in Argentinien für große Lehrrückstände

Die Bildungsministerin treibt aber vor allem eines an: "Corona hat Wunden in der Bildung hinterlassen. Die Vereinten Nationen sprechen ja nicht umsonst von einer Tragödie für diese Generation. Nach zwei Jahren Pandemie sollte die Bildung Priorität haben, daran besteht kein Zweifel. Im Zentrum unserer Entscheidungen stehen die Schüler und ihr Lernstoff."

Tatsächlich gehörten die argentinischen Schulen weltweit zu den Lehrstätten, die über mehrere Monate am längsten geschlossen waren. Bei den standardisierten Bildungstests schafften jetzt 7000 Schüler der Sekundarstufe nicht einmal 20 Prozent der Übungen in der Sprachprüfung.

Soledad Acuña ist felsenfest davon überzeugt, das Richtige entschieden zu haben: "Es geht nur um den Unterricht der Lehrer in den Klassenzimmern, es gibt keine Regeln und auch keine Verbote über die Art und Weise, wie Jungen und Mädchen untereinander sprechen. Diejenigen, welche die Entscheidung kritisieren, tun dies meiner Meinung nach aus Unwissen."

Lehrer an der Basis protestieren

Es sind wahrscheinlich Sätze wie diese, die Andrea Bohus so richtig auf die Palme bringen, denn Unwissenheit kann man ihr bestimmt nicht vorwerfen. Die 40-Jährige ist Sozialpsychologin, in der Lehrergewerkschaft Ademys aktiv, aber vor allem mit Leib und Seele Grundschullehrerin - und ist damit gezwungen, die Resolution mitzutragen. Für sie ist das praktische Verbot der gendergerechten Sprache im Klassenraum eine Entscheidung von Technokraten:

"Wir als Lehrer haben die Pflicht, so zu unterrichten, dass dies so wenig wie möglich den betroffenen Gruppen schadet. Diejenigen, welche die inklusive Sprache benutzen, können sich so mit der Sprache identifizieren und fühlen sich nicht mehr ausgeschlossen", sagt Bohus, "es ist eine Form der Gewalt und Diskriminierung, Menschen, ob Erwachsene, Jugendliche oder Kinder, unsichtbar zu machen." 

Andrea Bohus | Sozialpsychologin und Lehrerin
"Wie spreche ich zu meinen Schülern, wenn die sich durch meine Sprache nicht wiederfinden?" - Andrea BohusBild: privat

Den Lehrerinnen und Lehrern, die sich nicht an die Vorgaben hielten, drohte die Stadtregierung mit disziplinarischen Maßnahmen. Laut der Gewerkschaft sei aber noch niemand mit Sanktionen belegt worden. Bohus stößt auch bitter auf, dass sie von der Entscheidung aus den Medien erfahren habe. Wie eigentlich immer in den vergangenen 15 Jahren, sagt sie:

"Diese Resolution ist ein Angriff auf die Lehrerschaft. Und es ist ein Angriff auf eine Person, die sich traut, und man muss sich das erst einmal trauen, zu sagen, wie sie sich fühlt und selbst wahrnimmt. Es geht also gegen die Meinungsfreiheit, gegen die Rechte von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern und gegen das Recht, eine Identität zu besitzen. Es ist ein Angriff auf alles."

Auch das Argument der miserablen Ergebnisse bei den standardisierten Prüfungen will Bohus so nicht stehen lassen. Sei wirklich der Gebrauch der inklusive Sprache der Grund und nicht etwa die knappen Mittel für die Bildung, die öffentlichen Schulen, die sich in einem bemitleidenswürdigen Zustand befänden oder auch das miserable Essen in der Schulmensa? Ihr Appell: "Sie sollten die Resolution zurücknehmen und stattdessen den Bildungsetat erhöhen, der seit zehn Jahren in Buenos Aires von Jahr zu Jahr kleiner wird."

Kulturkampf und Intoleranz statt Dialog

Beim Thema der gendergerechten Sprache kochen in Argentinien spürbar die Emotionen hoch. Ähnlich wie bei der Frage der Abtreibung, die monatelang die Menschen auf die Straßen trieb, stehen sich zwei Lager mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Eine Art Kulturkampf - bei dem es für Dario Álvarez Klar aber nur eine Lösung geben kann:

"Es sollte nicht darum gehen, dass der eine oder andere gewinnt. Man muss eine Art Gleichgewicht finden, in dem akzeptiert wird, dass nicht alle gleich ticken. Nicht etwa: diejenigen, welche die inklusive Sprache benutzen, sind fortschrittlich, die anderen antiquiert. Oder andersherum: diejenigen sprechen nur so, weil das gerade in Mode ist, und die anderen sprechen gut. Wir müssten im Argentinien von heute ganz andere Debatten führen: über Intoleranz, über die Schwierigkeit, einen Dialog zu führen und einfach zu reden."

Dario Álvarez Klar | Gründer und Direktor des Bildungsnetzwerks "Red Educativa Itinere"
"Diese Diskussion hat nichts mit Alter zu tun, noch nicht einmal mit Geschlecht, sondern mit Haltung" - Dario Álvarez KlarBild: privat

Álvarez Klar ist Gründer und Direktor des Bildungsnetzwerks "Red Educativa Itinere", arbeitet als Dozent und hat eine lange Erfahrung als Schuldirektor. Auch er kritisiert die Entscheidung der Stadtregierung, die sich damit das Leben selbst schwer gemacht habe - ein Quasi-Verbot der inklusiven Sprache erreiche nichts und sei außerdem nur sehr schwer durchzuhalten.

"Eine Empfehlung auszusprechen hat dagegen einen ganz anderen Zungenschlag. Es kommt auch immer auf den Kontext an, in manchen Bereichen macht die inklusive Sprache vielleicht gar nicht so viel Sinn. Aber die Schulen haben ja einen großen Vorteil: die Lehrer kennen ihre Klasse und können so selbständig eine Form finden, alle Schülerinnen und Schüler anzusprechen und sie zu integrieren, ohne jemanden zu diskriminieren."

Realität hat Sprache schon überholt

Dabei ist Argentinien im Grunde Vorreiter in Lateinamerika bei den Rechten von LGBTQI-Personen. 2012 erließ die Regierung als erste weltweit ein Gesetz, dass es Menschen gestattete, ihr offizielles Geschlecht ändern zu lassen, ohne zuvor einen Arzt besucht zu haben. Seit einem Jahr müssen ein Prozent aller Beamtenjobs von Transgender-Personen besetzt sein. Ein Kind des Präsidenten Alberto Fernández identifiziert sich offen als nicht-binär. Die Resolution 2566/2022 sei daher längst von der Wirklichkeit überholt worden, sagt der Bildungsexperte.

"Sie verdeckt eine Realität, die längst existiert. Die inklusive Sprache ist nicht nur eine Notwendigkeit, sie kann auch nicht auf grünes Licht für ihren Gebrauch warten. Die Wahrheit ist, dass Sprachakademien oft die Nutzung autorisieren, Jahre nachdem sich diese Sprache bereits etabliert hat. Man kann nicht immer darauf warten, dass das Wort auch im Wörterbuch steht."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur