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PolitikNahost

Die Justizreform ist noch nicht vom Tisch

30. März 2023

Nach einem Generalstreik und Protesten hat Ministerpräsident Netanjahu die Justizreform verschoben. Nun finden neue Gespräche statt. Die Demonstrationen sollen weitergehen.

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Ein schier endloser Demonstrationszug und ein Meer von Israelflaggen
Zehntausende Israelis protestierten auch am Montag wieder in der Nähe der Knesset in Jerusalem gegen die geplante JustizreformBild: Ilan Rosenberg/REUTERS

Am Montag ging fast nichts mehr in Israel. Drei Monate Proteste gegen die geplante Justizreform, dann trat auch noch die Dachgewerkschaft Histadrut in den Generalstreik - die politische Krise war auf dem Höhepunkt.

Emma Tukatly geht seit drei Monaten auf die Straßen, um gegen das Vorhaben von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu demonstrieren: "Als ich sah, dass die Histadrut auch an dem Generalstreik teilnimmt, neben den vielen Geschäftsleuten, hatte ich Gänsehaut. Ich saß mit meinem Ehemann vorm Fernseher und wir haben beide losgeheult", sagt Tukatly, die ihre eigene Eventfirma betreibt und in der Protestgruppe "Pink Front" aktiv ist.

An Israels internationalem Flughafen Ben Gurion mussten die meisten Flüge gestrichen werden. Auch Stadtverwaltungen, Universitäten und viele Beamte beteiligten sich am Streik. "Es fühlte sich fast wie eine Erlösung an, das Gefühl, dass jeder dabei ist, dass wir gewinnen könnten, dass am Abend alles endet und vielleicht sogar diese Regierung auseinanderfallen würde", sagt Tukatly.

Netanjahu lässt sich Zeit, um eine "Auszeit" von der Reform zu verkündigen

Nach vielen Stunden des Wartens trat Netanjahu schließlich um kurz nach 20 Uhr vor die Kameras. Er sagte, er würde einen Kompromiss mit der Opposition suchen und eine Entscheidung über die Reform bis zur nächsten Parlamentssitzungsphase Ende April verschieben.

"Wenn es eine Möglichkeit gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu verhindern, dann werde ich als Ministerpräsident diese Auszeit für einen Dialog wahrnehmen", sagte Netanjahu. Eher wenig versöhnlich behauptete er, es gebe "eine extremistische Minderheit", die bereit dazu sei, "unser Land in Stücke zu reißen". Den Befürwortern der Reform sagte er, sie werde "so oder so" durchgebracht. Ähnliches war von Netanjahus rechtsextremen Koalitionspartnern zu hören, die am Montagabend zu einer Gegendemonstration zugunsten der Reform aufgerufen hatten.

 Benjamin Netanjahu an einem Rednerpult mit Israelflagge
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verschiebt Justizreform in die nächste Sitzungsphase des Parlaments, der KnessetBild: GPO

Die Gegner der Justizreform hatten sich eindeutig mehr erhofft. "Jetzt schauen wir im Grunde auf eine Verschiebung von einem Monat. Es ist wirklich schwer darüber zu reden. Ich könnte losheulen", sagt Tukatly.

Schock-Entlassung des Verteidigungsministers

Der massive Streik am Montag war auch eine Reaktion auf Netanjahus Entscheidung in der Nacht zum Sonntag, Verteidigungsminister Joav Galant zu entlassen, der Mitglied von Netanjahus Likud-Partei ist. Kurz zuvor hatte Galant vorgeschlagen, die Justizreform auszusetzen: Die wachsende Spaltung im Land könne die nationale Sicherheit gefährden, auch weil eine steigende Zahl Militärreservisten drohe, Training oder Dienst zu verweigern. Es folgte eine dramatische Nacht, in der zehntausende Israelis auf die Straße gingen

Angesichts des zunehmenden Drucks auf Netanjahu drohte sein rechtsextremer Koalitionspartner und Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, mit einem möglichen Rücktritt. Erst am Abend schien Netanyahu alle Koalitionspartner an Bord zu haben. Auch Ben-Gvirs Otzma Yehudit Partei habe einer Verschiebung der Reform auf die nächste Parlamentsperiode nach den Pessah-Ferien zugestimmt, hieß es. Im Gegenzug soll der rechtsextreme Minister eine "nationale Garde" einrichten dürfen.

Anti-Reform-Demonstranten wollen weitermachen

Die verschiedenen Protestbewegungen wollen weitermachen. Und das hält die Politikwissenschaftlerin Dahlia Scheindlin für glaubwürdig. "Sie glauben nicht daran, dass Netanjahu wirklich plant, seine Attacken gegen die israelische Justiz zu beenden. Und sie werden darauf vorbereitet sein, den Druck aufrechtzuerhalten, um ihr Ziel zu erreichen: das Ende dieser Gesetzgebung", sagte Scheindlin der DW.

Eine Gruppe mit Trommeln bei einer Demonstration in Jerusalem
Seit mehr als drei Monaten demonstrieren verschiedene Gruppen von Gegnern der Justizreform im ganzen LandBild: Saeed Qaq/imago images/ZUMA Wire

Dennoch stellt die Verschiebung der Reform ein Zugeständnis des umstrittenen Ministerpräsidenten dar. Der hatte bis zuletzt versprochen, noch diese Woche - vor der Frühjahrspause der Knesset - über erste Kernelemente der Gesetzgebung abzustimmen. Gleichwohl hat der zuständige Knesset-Ausschuss noch am Dienstag den Gesetzentwurf vorgelegt, damit er jederzeit in die endgültige zweite und dritte Lesung gehen kann.

Entgegenkommen oder Zeitspiel?

Israelische Kommentatoren waren schnell dabei, dies nur als Netanjahus "taktische Pause" zu beschreiben. "Man kann ihm zugutehalten, dass er schöne Worte gefunden hat, um eine krachende Niederlage in ein Unentschieden zu verwandeln", schrieb Nahum Barnea in der Tageszeitung "Yedioth Ahronoth". "Aber das wird die Fakten nicht ändern. Auch wird es die Tatsache nicht ändern, dass er in einem anderen Universum lebt: Die israelische Gesellschaft brennt, und alles was er anbietet, ist eine prozedurale Lösung."

Die konservative und Likud-nahe Israel Hayom schrieb: "Wenn der Likud weiter führen will, muss er zu einem pragmatischen, gemäßigten Ansatz zurückkehren, der die Partei immer geprägt hat, und den 'Traum von ultra-rechts' vergessen."

Isaac Herzog in Brüssel anlässlich des Holocaust-Gedenktags 2023
Präsident Herzog hat alle Seiten eingeladen, um eine Lösung zu finden (Archivbild)Bild: Virginia Mayo/AP PHoto/picture alliance

Befürworter der geplanten Justizreform kritisieren schon lange, insbesondere das Oberste Gericht sei eine Bastion der politischen Linken und habe unverhältnismäßig viel Macht, um die Regierung zu kontrollieren. Kritiker fürchten, die Reform ermögliche der Exekutive, jede Entscheidung des Obersten Gerichts aufzuheben. Zudem könne ein politisiertes Justizsystem Netanjahu helfen, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Der israelische Ministerpräsident steht wegen Korruptionsverdacht vor Gericht - Vorwürfe, die er immer zurückgewiesen hat. 

Neue Gespräche beim Präsidenten

Am Dienstagabend empfing Präsident Isaac Herzog Vertreter von Regierung und Opposition zu einem ersten Treffen. Bereits Mitte März hatte der israelische Präsident einen Kompromissvorschlag vorgelegt, den die Koalitionsregierung aber abgelehnt hatte. Das Treffen sei "in einem positiven Geiste" durchgeführt worden, teilte das Präsidialamt mit.

Beobachter bleiben skeptisch. "Ich denke nicht, dass sie einen zufriedenstellenden Kompromiss finden werden. Die Regierung ist bisher noch nie von ihrem Ziel abgewichen, die Unabhängigkeit der Justiz einzuschränken", sagt Dahlia Scheindlin.

"Beste Freunde" üben "Druck von außen" aus

Mehrere Regierungsvertreter befreundeter Staaten haben bereits ihre Besorgnis über die geplante Justizreform geäußert, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz. US-Präsident Joe Biden griff zu den bisher deutlichsten Worten und riet Netanjahu, von der Justizreform Abstand zu nehmen: "Hoffentlich wird der Ministerpräsident versuchen, so zu handeln, dass er einen echten Kompromiss ausarbeiten wird, aber das bleibt abzuwarten," sagte Biden und ließ wissen, dass Netanjahu "in nächster Zeit" keine Einladung ins Weiße Haus erwarten dürfe.

Netanjahu antwortete umgehend: Israel sei "ein souveränes Land, das seine eigenen Entscheidungen durch den Willen seines Volkes trifft", und nicht "basierend auf Druck von außen, auch nicht von den besten Freunden".

Die Gegner indes würden nicht klein beigeben, bis Netanjahu sein Gesetzesvorhaben aufgibt, sagt Emma Tokatly: "Wir hören jetzt nicht auf!"

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin